Der Friedenspreis Dresden 2024 wurde am 12. Mai 2024 im ausverkauften Schauspielhaus in Dresden posthum an den Kreml-Kritiker und Oppositionspolitiker Alexej Nawalny verliehen
Julija Nawalnaja in ihrer Dankesrede anlässlich der Friedenspreis-Verleihung an ihren Mann Alexej Nawalny
In einer Zeit, in der Kriege die Welt erschüttern, in der die auf dem Respekt der Menschenwürde beruhende Völkerrechtsordnung ins Wanken geraten ist, ist dieses Friedenssignal aus Dresden besonders wichtig. Wann - wenn nicht jetzt! Ein Signal aus einer Stadt, die erfahren hat, was Bombennächte sind: Es war eine einzige Bombennacht in einem Krieg gegen eine mörderische Verbrecherbande. Heute bangen viele Ukrainer in Bombennächten um ihr Leben – in einem Angriffskrieg, der sie in eine Diktatur zwingen will. Da darf es kein Zögern geben, um ihnen zu helfen. In der Ukraine wird auch unsere Freiheit verteidigt, durch Menschen, die täglich ihr Leben opfern. Soldaten auch der Ukraine haben seinerzeit mitgekämpft, um uns von dem Naziregime zu befreien. Viele von ihnen sind nicht wieder nach Hause gekommen.
Was hat uns Nawalny zu sagen? Bemüht Euch, die Taktik, die Strategie, die Denkweise, die Ziele von Putin-Russland zu verstehen. Versteht, dass es bei dem Konflikt nicht nur um Europa geht, sondern um die gesamte Welt. Es ist ein gefährlicher Moment in der Menschheitsgeschichte. Ihr müsst Euch mit allen Mitteln dafür einsetzen, dass die auf dem Prinzip der Menschenwürde beruhende Völkerordnung gerettet wird – das wird Nawalny fordern. Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte von 1948 war eine Reaktion aller Völker auf die fürchterliche Barbarei im 20. Jahrhundert. Es war eine Absage an den Krieg und seine Gräuel. Es war nicht nur eine Friedensbotschaft - denn untrennbar ist Frieden mit Menschenwürde und Freiheit verbunden worden. Das haben alle Völker aus allen Kulturen damals bekräftigt. Es war ein Moment der Besinnung der Völkergemeinschaft. Hätten wir diesen nur heute! Nawalny wurde von diesen Überzeugungen getragen und motiviert. Es sind die gleichen, die Sacharow, Kopelev und der ebenfalls ermordete Boris Nemtsov geprägt hatten.
Nawalny hat den Krieg gegen die Ukraine vehement verurteilt. Auch er hat für unsere Freiheit gekämpft, wenn er für Russlands Freiheit kämpft und damit beweisen will, dass auch Russland zur Freiheit fähig ist, denn allen Menschen ist die Freiheit eingeboren. Wir alle werden frei geboren, um frei zu sein. Nawalny würde in einem »Einfrieren« des Krieges eine große Gefahr für die Freiheit sehen, wie es das Minsker Abkommen schließlich war. Es wäre nur eine Unterbrechung des Krieges, ein Sieg aus der Sicht Putins. Karl Schlögel – einer der besten Kenner Russlands – stellt fest:
Er fürchtet sein eigenes Volk. Er, der jegliche Informationsfreiheit unterdrückt, fürchtet sogar schwache Gegenkandidaten. Nawalny hat er aber zu Recht gefürchtet. Wie schwach muss sich ein Regime fühlen, wenn es Menschen mit eigenen politischen Meinungen zu Verbrechern erklärt, in Straflager steckt oder in die Psychiatrie. Tausenden ist dieses Schicksal widerfahren. Viele werden jetzt zu Tode gequält, wie Kara Mursa. Viele wurden ermordet, wie Nemtsov, wie Nawalny.
Wenn wir von Freiheit reden, sollte uns bewusst sein, dass wir stets auch unsere eigene Freiheit verteidigen müssen – und das in einer gefestigten DEMOKRATIE! Wir müssen sie verteidigen gegen ernsthafte Bedrohungen, die von Verächtern unserer freiheitlichen Ordnung ausgehen.
Bis zum Lebensende hat Nawalny sich mit »Schlussworten« in den vielen Prozessen, denen er ausgesetzt war, öffentliches Gehör verschafft. 3 Jahre hat er nach Rückkehr in Haft verbracht, 3 Jahre in lebensbedrohender Folterhaft. Er war sich der Risiken einer Rückkehr durchaus bewusst. Aber er wollte zurück zu seinem leidgeprüften Volk, motiviert auch durch christliche Nächstenliebe. Er liebte sein Land. Wie muss Ihnen, Julia Nawalnaja, zu Mute gewesen sein, ihn im Wissen um die Gefahr beim Abschied ein letztes Mal zu umarmen. Julia Nawalnaja und ihre Mitstreiter, ich nenne nur Leonid Volkov, setzen seine Mission fort. Sie verdienen jede Unterstützung – auch das soll der Preis zum Ausdruck bringen.
Nawalny verzweifelte nicht, resignierte nicht, kapitulierte nicht. Von Todesangst ließ er sich nicht leiten, sondern von der Liebe zu den Menschen. Mit ihm knüpfen wir auch an die Ehrung unseres ersten Preisträgers im Jahre 2010 an: Michael Gorbatschow. In seiner Dankesrede damals warnte er vor den die vielen Gefahren in der Welt, vor den Menschen, die »wüten und zerstören«, vor der Gefahr der »Militarisierung«, vor den Gefahren des Atomkrieges. Er warnte vor allen weltweiten Gefahren für den Frieden. Es war eine Friedensrede gegen den Krieg. Das Putin-Regime hat ihn nach seinem Tod mit demütigender Verachtung gestraft.
Mein Appell an uns an alle lautet: Beweisen wir unseren Respekt, unsere Dankbarkeit gegenüber Alexey Nawalny, indem wir Russland so verstehen, wie er und seine Mitstreiter es verstehen und bewahren wir uns davor, gefährlichen Fehleinschätzungen zu erliegen. Ich meine die »Russlandversteher« und die, die sich anmaßen, das zu sein.
Der russische Komponist Sergeij Newski hat in einem kurzem »Requiem« ein Gedicht des russischen Schriftstellers Warlam Schalamow vertont, das wir gleich hören werden- Schalamow, war ein Opfer des GULAG. Die letzten Zeilen seines vertonten Gedichtes lauten.
Von dieser Hoffnung sollten wir uns leiten lassen.
Sehr geehrter Herr Ministerpräsident und Mitglieder der Sächsischen Staatsregierung, sehr geehrte Mitglieder des Deutschen Bundestages, Sächsischen Landtages, des Dresdner Stadtrates, sehr geehrter Gerhart Baum, sehr geehrter Herr Gauck, sehr geehrte Julia Borrisowna Nawalnaya, sehr geehrte Mitglieder der Initiative Friedenspreis, liebe Kolleg*innen Beigeordnete Eva Jähnigen und Jan Pratzka, verehrte Ehrengäste und Anwesende,
Verehrte Anwesende, in diesem Herbst jährt sich die Friedliche Revolution und der Fall der Mauer zum 35. Mal. Mit dem Herbst 1989 und der Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten war eine Hoffnung verbunden. Die Hoffnung, dass sich nach dem Ende des Kalten Krieges Frieden, Demokratie und Freiheitsrechte in ganz Europa durchsetzen würden. Es war Michael Gorbatschow, der mit der Vision von Perestroika und Glasnost vielen Menschen in der DDR und auch in Dresden Hoffnung gab.
Die Hoffnung und den Mut, verkrustete politische Strukturen reformieren und die Diktatur des Proletariats abschaffen zu können. Es war das das sowjetische Staatsoberhaupt Gorbatschow, das mit der Zustimmung zu den Zwei-Plus-Vier-Verträgen die Wiedervereinigung ermöglichte.
Das, was uns an Grund- und Freiheitsrechten in unserem Land und hier in Dresden nach drei Jahrzehnten als so selbstverständlich gilt, ist weder in Europa noch weltweit eine Selbstverständlichkeit. Versammlungsfreiheit, Meinungsfreiheit, Pressefreiheit, Kunstfreiheit, freie und geheime Wahlen mussten in der Vergangenheit hart errungen und müssen immer wieder verteidigt werden.
Wir haben in den letzten Jahren erlebt, was unter nationalistischen und rechtspopulistischen Regierungen in unseren Nachbarländern Polen und Ungarn passiert ist. Wie die Presse- und Meinungsfreiheit ausgehöhlt wurde. Wie die Vielfalt von Lebensweisen und sexuellen Orientierungen beschränkt wurde. Wie die Kunstfreiheit eingeschränkt wurde durch den Austausch von Schlüsselpositionen bis hin zu Verfassungsänderungen. Es war ein schleichender Prozess und darin liegt die Gefahr. Dass Demokratie, Freiheit und Vielfalt mit den Instrumenten der Demokratie von nationalistischen und rechten Scheindemokraten eingeschränkt und schließlich abgeschafft werden. Das sollte uns allen, die im Juni und im September Dresden und Sachsen wählen dürfen, eine Warnung sein. Nicht jede Partei, die in einer Demokratie zur Wahl steht, steht für Demokratie.
Der Name Nawalny steht für viele noch lebende Frauen und Männer im Widerstand gegen das System Putin. Nawalny als Symbol für Menschen, die in russischen Gefängnissen und Arbeitslagern als politische Gegner eingesperrt sind. Doch das politische Engagement von Alexey Nawalny ist nicht losgelöst von Julia Borissowna Nawalnaja, zu sehen. Beide haben gemeinsam ihr Leben dem politischen Engagement für Russland, für Demokratie und Menschenrechte gewidmet. Das eigene Leben als Paar dem Widerstand gegen das System Putin zu widmen, dem Kampf gegen Machtmissbrauch und politische Unterdrückung bedeutet Verzicht. Es heißt, sich und seine Familie Repressalien und Gefahren auszusetzen. Alexey Nawalny und Julia Borissowna Nawalnaja stehen damit stellvertretend für unzählige Frauen und Männer in Russland. Sie werden heute gewürdigt in Anerkennung der Menschen in Russland, die sich unter Gefahr für Leib und Leben engagieren, wie die heute anwesenden Leonid Wolkow und Iwan Shdanow sowie die Mitglieder der verbotenen Organisation MEMORIAL. Umso wichtiger ist es, dass heute von Dresden aus mit der Verleihung des Friedenspreises ein Zeichen gesetzt wird. Ein Zeichen in der Stadt, in der der heutige russische Präsident, der Autokrat, der Aggressor Putin einst als Mitarbeiter des Geheimdienstes KGB lebte.
Im Vorfeld der Preisverleihung wurde ich angesprochen, ob es richtig sei, den Friedenspreis an Alexey Nawalny zu verleihen mit Blick auf sein ambivalentes politisches Engagement in früheren Jahren. Von dem polnischen Lyriker Stanislaw Jerzy Lec stammt ein Zitat: »Wer eine Tragödie überlebt hat, ist nicht ihr Held gewesen.« Anders formuliert: »Wenn man Tragödien überlebt, bleibt ein Teil von einem selbst beschädigt zurück.« (so die Wochenzeitung DIE ZEIT).
Der Frieden in Europa ist bedroht durch Wladimir Putin und den von Russland verursachten Krieg in der Ukraine. In Russland werden Oppositionelle verfolgt und unterdrückt. Deshalb ist es entscheidend, jetzt die Menschen zu würdigen und von Deutschland aus aktiv zu unterstützen, die sich für Frieden, Demokratie, Freiheit und Menschenrechte einsetzen.
Sehr geehrte Julia Borissowna Nawalnaja, herzlich Willkommen in Dresden. Im Namen der Landeshauptstadt Dresden möchte ich Ihnen für Ihr Engagement und ihren Mut danken. Ich wünsche Ihnen Kraft und Zuversicht. Mögen Sie auch in Zukunft den Mut, die Überzeugung und alle Unterstützung haben, die Sie benötigen!
Ich bin der Trägerinitiative des Friedenspreises Dresden außerordentlich dankbar, dass sie den Preis in diesem Jahr posthum an den russischen Bürgerrechtler, Korruptionsbekämpfer und Politiker Alexej Nawalny verleiht. Wir brauchen die Erinnerung an diesen so selbstlosen und fast übermenschlich mutigen Mann, der uns vor Augen führt, dass es auch ein anderes Russland geben kann.
Verehrte Frau Nawalnaya, ich danke Ihnen von Herzen, dass Sie heute hier sind, um diesen Preis stellvertretend für Alexej Nawalny entgegenzunehmen. Kurz nachdem Sie vom Tod Ihres Mannes erfahren hatten, sagten Sie bei der Münchner Sicherheitskonferenz: „Ich möchte die gesamte internationale Gemeinschaft, all diejenigen in der Welt, die jetzt zuhören, dazu aufrufen, zusammenzustehen und dieses Böse zu besiegen, dieses furchtbare Regime, das heute über Russland herrscht.“ Und weiter: „Dieses Regime und Wladimir Putin persönlich sollten zur Verantwortung gezogen werden für all diese Gräueltaten, die sie in den vergangenen Jahren in meinem Land, in unserem Land Russland verübt haben.“ Liebe Frau Nawalnaja, es ist ermutigend und inspirierend zu sehen, dass Sie die Arbeit Ihres verstorbenen Mannes so unbeirrt, couragiert und selbstbewusst fortsetzen. Ich verneige mich in tiefstem Respekt vor der Art und Weise, wie Sie den Kampf für Gerechtigkeit und Freiheit in Russland führen. Alle, die wir hier heute in Dresden versammelt sind, stehen hinter Ihnen und wir nehmen Anteil an Ihrer Trauer und dem tragischen Verlust, der Ihnen persönlich und der allen freiheitsliebenden Menschen vom barbarischen Putin-Regime zugefügt wurde.
Auch wenn seine Ehrung am heutigen Tage, knapp drei Monate nach seinem Tod, nur eine Geste sein kann: es bedarf solcher Gesten, um jene im öffentlichen Diskurs präsent zu halten, die unter Einsatz des eigenen Lebens die Menschenwürde und das Recht verteidigen.
Dem Putin-Regime reichte es offenkundig nicht aus, dass Alexej Nawalny wegen seines politischen Engagements aus der Öffentlichkeit ausgeschlossen wurde. Zahlreiche weitere politische Gefangene sind in Russland hinter Gefängnismauern verschwunden, weil sie trotz Einschüchterung, Drangsalierung und Vergiftungsversuchen nicht ablassen wollten, Unrecht, Korruption und Krieg anzuprangern und der Wahrheit über die Diktatur in Russland ihre Stimme zu geben. Die sogar um ihr Leben bangen müssen, wenn sie demokratischen Protest organisieren und die Allmacht von autoritären Herrschern durchbrechen. Sie brauchen die Solidarität jener, die offen sprechen können.
Ich begrüße den Preis für Alexej Nawalny auch deshalb, weil Menschen wie er uns zeigen, dass wir immer eine Wahl haben. Mag es in Zeiten von Diktatur auch normal sein, zu schweigen und sich anzupassen, so zeigen sie uns, dass es möglich ist, die Angst zu überwinden und gegen das Unrecht aufzustehen. Die Realität hat uns zwar gelehrt, dass nicht alle Menschen widerstehen können, aber Menschen wie Alexej Nawalny zeigen uns diese mögliche Variante menschlichen Verhaltens angesichts von Unfreiheit und Unterdrückung. Das Dasein solcher Menschen ist ein Appell an uns alle: erkenne deine Möglichkeiten, unterwirf dich nicht freiwillig, tue das, was dir möglich ist, um dem Ungeist und Unrecht zu widerstehen!
Wenn ich gerade vom Widerstehen spreche, dann muß ich hier an die Ukrainer denken, die seit über zwei Jahren ihre Souveränität und Freiheit mit bewundernswerter Ausdauer und großem Mut verteidigen. Sie verdienen unsere fortgesetzte Unterstützung und benötigen alle Mittel, die den Widerstand gegen den skrupellosen Aggressor und eine Abwehr seiner Kriegsgräuel ermöglichen. Die Ukrainer wissen es: Unter russischer Herrschaft sollen sie ihrer Geschichte, Sprache und Kultur – sprich: ihrer Identität – beraubt werden, so wie es bereits in den von Russland okkupierten Gebieten geschieht. Das expansionistische Russland zu schwächen und zurückzudrängen ist daher das Gebot der Stunde. Dabei gilt es nicht nur die Existenz einer eigenen ukrainischen Nation zu sichern. Deutlich steht uns vor Augen: Die Ukraine verteidigt auch unsere freie Art zu leben, die wir zu lange für selbstverständlich und unbedroht gehalten haben.
Der Kampf gegen die autoritäre Kreml-Herrschaft wird aber auch von Russen selbst geführt – von jenen, die zum „anderen“ Russland gehören. Wir hören ihre Stimmen, wie die von Viktor Jerofejew und anderen Künstlerinnen und Intellektuellen im Exil; oder auch aus dem litauischen Wilna, wohin ein Teil des Teams von Alexej Nawalny geflohen ist. Oder aus Berlin, wo eine Filiale der Menschenrechtsorganisation Memorial gegründet wurde. Wir hören etwa von Oleg Orlov, als Beispiel für die „anderen“ Russen aus Russland selbst, obwohl dort schon das kleinste Aufbegehren zu Festnahmen, Anklagen und teilweise drastischen Strafen oder, wie einst in Sowjetzeiten, auch wieder zu Einweisungen in die Psychiatrie führt. Noch aus Lagern und Gerichtssälen dringen die politischen Botschaften der ungebrochenen Angeklagten an die Öffentlichkeit – wie etwa vom 42-jährigen Wladimir Kara-Mursa, der im April 2023 zu 25 Jahren Haft wegen angeblichen Hochverrats verurteilt wurde. Oder vom Kreml-Kritiker Ilja Jaschin, der zu achteinhalb Jahren verurteilt wurde, weil er über die russischen Gräueltaten im ukrainischen Butscha berichtet hatte. Oder wie eben bis zum 16. Februar von Alexej Nawalny, dem bekanntesten und laustärksten Kritiker des Putin-Regimes. Es geht unter Putin - wie einst zu KGB-Zeiten - wieder um Zersetzung und Vernichtung derer, die sich der absoluten Macht nicht beugen wollen, es geht darum, sie physisch und psychisch zu brechen. Und Alexej Nawalny war Putins Angstgegner. Er wurde zur Ikone der Putin-kritischen Opposition.
Lassen Sie mich einen Blick zurück auf den politischen Werdegang von Alexej Nawalny richten. Als Jurist und Blogger trat er zunächst auf als Anwalt der russischen Mittelschicht, die auf dem Aktienmarkt ihr Geld an die Korruption verlor. Dann deckte er mit Hilfe des Internets die Veruntreuung von Staatsgeldern in großem Stil auf. Seine 2011 als Nichtregierungsorganisation gegründete Stiftung landete ihren größten Coup mit einem Video über die pompöse Privatresidenz von Putin am Schwarzen Meer - auf einem Grundstück, in dem 39 Fürstentümer von Monaco Platz finden könnten. Das Video erreichte 132 Mio. Klicks. Auch als Politiker hat Alexej Nawalny versucht, in der russischen Gesellschaft aktiv zu werden; 2013 kandidierte er zur Bürgermeisterwahl in Moskau und erreichte über 27 Prozent der Stimmen. 2017 trat er als Putins Gegenkandidat zur Präsidentschaftswahl im April 2018 an, wurde allerdings wenige Monate vor der Wahl von der Zentralen Wahlkommission ausgeschlossen. Wichtiger als ein fest umrissenes Programm war es ihm immer, möglichst viele verschiedene Strömungen zusammenführen, wenn sie denn gegen die Regierungspartei „Einiges Russland“ gerichtet waren.
Das erste Mal wurde er 2011 verhaftet. Weil er gegen Fälschungen bei den Parlamentswahlen protestiert hatte, kam er 15 Tage in Haft. 2013 erhielt er wegen angeblicher Unterschlagung fünf Jahre Haft auf Bewährung, obwohl der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte das Recht auf ein faires Verfahren verletzt sah. Im Laufe der Zeit wurden die Strafen und Schikanen immer drakonischer. 2017 schütteten ihm unbekannte Täter eine Säureflüssigkeit ins Gesicht; Nawalny konnte sein verätztes rechtes Auge nur durch eine Operation in einer spanischen Spezialklinik retten. Im Sommer 2020 entging er dem Tod nur knapp, weil er nach einem hinterhältigen Giftanschlag mit dem Nervenkampfstoff Nowitschok ins künstliche Koma versetzt und zur Behandlung in die Berliner Charité ausgeflogen wurde. Im Exil zu bleiben, kam für ihn allerdings nicht in Frage, - auch wenn er wusste, dass er für seine Rückkehr einen hohen Preis würde zahlen müssen. Kaum angekommen wurde er noch auf dem Flughafen verhaftet.
Was Sie, liebe Frau Nawalnaja, damals auf dem Rückflug angesichts der zu erwartenden Repression empfunden und was Sie mit Ihrem Mann besprochen – oder umgekehrt auch ausgeblendet - haben, wissen wir nicht. Aber wir erinnern uns sehr deutlich an das Bild, wie Ihr Mann, dieses wieder und wieder verfolgte Individuum, kostbare Momente menschlicher Nähe erlebt, als seine Frau ihn im Flugzeug begleitet auf seinem Weg, der sehr bald zu Erniedrigung und Einsamkeit führen wird. Für Ihren Mann stand aber offensichtlich unerschütterlich fest: Wer etwas verändern will, der muss am Ort des Geschehens sein. Und sei es hinter den streng bewachten Mauern von Gefängnissen und Straflagern. Und sei es unter Inkaufnahme des eigenen Todes.
Alexej Nawalny hatte durch seine Entscheidung nicht verloren, sondern in den Augen all jener Landsleute gewonnen, die noch Gut und Böse zu unterscheiden vermögen: Durch seine Unbeirrbarkeit und seinen ungeheuren Mut. Und durch seine Entscheidung, bis zum tödlichen Ende mit der Mehrheit durchzustehen, was das repressive System ihr auferlegt. Unter solchen Bedingungen können Aufenthalte im Gefängnis oder in der Verbannung zu Beweisen einer nahezu religiösen Hingabe an „die Sache“ werden, und die Märtyrer – nun also auch Nawalny – werden zu Ikonen einer Anklage gegen unmenschliche, ja tödliche Herrschaft. Für manche Oppositionelle ist Selbstaufopferung auch nicht nur eine Konsequenz ihres moralischen Selbstverständnisses. Sie folgen auch einer grundlegenden Einsicht, wie sie etwa der Soziologe Grigori Judin formulierte: Was würde denn geschehen, wenn alle Kritiker Putins das Land verließen? Wenn sie ihre Heimat aufgeben würden? Wenn Putin einfach im Kreml bliebe – und sich irgendwann wieder alles „normalisieren“ würde?
Letztlich muss der Kampf vor Ort ausgefochten werden. Und zweifellos zählt Nawalnys langjähriger Kampf gegen die korrupte Elite zu den wichtigsten delegitimierenden Faktoren des Putin-Systems. Kein anderer Oppositioneller war so charismatisch wie er. Kein anderer konnte Zehntausende zu Protesten auf die Straße bringen. Keinem anderen ist gelang es, über viele Jahre mit unorthodoxen Methoden die Regierung so herauszufordern. Es gibt auch nicht viele andere Oppositionelle, die in ähnlich exponierter Lage so unbeirrt, angstfrei und ungebrochen an ihren Zielen festhalten - trotz permanenter Schikanen und Einschüchterungen, trotz rechtswidriger Trennung von der Familie, trotz körperlicher Schwäche und fehlender medizinischer Betreuung, trotz Isolationshaft in einer Einzelzelle, die Nawalny einmal als „Hundezwinger“ beschrieb. Ihn brach nicht einmal ein infamer Mordversuch durch den russischen Inlandsgeheimdienst. „Einen mutigeren Menschen“, so sagte es einmal ein Wahlkampfhelfer aus Jekaterinburg, „habe ich noch nicht getroffen.“
Dank Nawalny ist ein alternatives politisches Netzwerk entstanden, das nicht in den allgegenwärtigen Klientelbeziehungen wurzelt. Selbst wenn seine über ganz Russland verteilten Regionalbüros und sein „Fond zur Korruptionsbekämpfung“ inzwischen verboten wurden, so konnte seine Bewegung doch nicht mundtot gemacht werden. Regelmäßig meldete sich Nawalny mit Videobotschaften selbst aus dem Lager. Und 140 seiner Mitarbeiter im Wilnaer Exil versorgen über soziale Medien jeden Monat zwischen 18 und 20 Millionen Menschen in Russland mit Fakten und Kommentaren, und ermutigen jeden einzelnen zur Selbstbefragung: Was kann ich persönlich tun, um widerständig gegenüber dem System zu sein? Denn – davon war Nawalny überzeugt: „Jeder kann etwas tun. Rede mit dem Nachbarn. Hänge einen Flyer auf. Berichte anderen von unseren Recherchen. Spende Geld.“ Ja: Es gibt ein „anderes“ Russland, ein Russland außerhalb des Systems Putin. Das ist die Hoffnung aller Demokraten für die Zukunft.
Ich möchte unsere heutige Begegnung und die Preisverleihung auch nutzen, um auf eine Verpflichtung derer hinzuweisen, die das Glück haben, in Freiheit leben und sprechen zu können. Wenn die Opfer autoritärer und imperialer Herrschaft nicht mehr selbst ihre Stimme gegen die Unterdrückung erheben können, dann sind wir in den freien Gesellschaften verpflichtet, uns auch in ihrem Namen zu Wort zu melden: einzutreten für ein Leben in Freiheit, Frieden und Selbstbestimmung. Auch von uns wird es abhängen, was mit anderen politischen Gefangenen im Putin-Russland zukünftig geschieht. Auch von uns wird es abhängen, was aus Maria Kolesnikowa, Viktor Barbariko, Sergej Tichanowski und anderen politischen Gefangenen in Belarus geschieht.
Freunden gegenüber hatte Alexej Nawalny einmal gesagt, die Berichterstattung im Westen über seine Verfolgungen sei seine Lebensversicherung. Heute müssen wir feststellen: Es hat nicht gereicht. Alexej Nawalnys Leben konnte nicht gesichert werden. Aber vielleicht gelingt es uns, mit dieser posthumen Preisverleihung das Licht auf jene Kräfte in Russland zu richten, die Widerstand leisten und für ein demokratisches Russland kämpfen.
Aber auch für uns im westlichen Europa enthält der Blick auf Alexej Nawalny eine bedeutende Botschaft: der bewusste Gang ins Lager, die Entwürdigung und sein Tod offenbaren uns einen Glauben und eine Hingabe an die Idee der Freiheit, die uns Freiheitsverwöhnten übermenschlich erscheint. Wer von uns wollte diesem Beispiel schon folgen? Aber eines könnten wir doch sehr wohl: den Wert der Freiheit neu begreifen und bewusster verteidigen, was wir in unseren freiheitlichen Gesellschaften geschaffen haben. Und wenn wir uns auch nicht zutrauen, genau so mutig zu handeln wie die großen Vorbilder und Märtyrer, so vermag ihr Leben, ihr Widerstehen uns doch so zu ermutigen und zu verändern, dass wir mit neuer Energie und mit festem Willen an die Seite all derer treten, die Freiheit und Recht verteidigen.
Sehr geehrter Herr Bundespräsident Gauck, ehrenwerter Herr Baum, sehr geehrte Damen und Herren,
ich möchte ein paar Worte zu den wunderbaren und wichtigen Reden sagen, die heute in diesem schönen Saal, in Ihrer schönen Stadt, bereits gehalten wurden. Ich war noch nie in Dresden, aber mein Mann Alexej schon. Alexej Nawalnys berühmtester Enthüllungsfilm dreht sich um Putins riesigen Palast am Schwarzen Meer. Er wurde von 132 Millionen Zuschauern gesehen. Wie alle anderen auch beginnt er mit dem Satz „Hallo, hier ist Navalny“. Und er sagt ihn hier in Dresden, auf der Radeberger Straße.
Ein paar Wochen später werden Alexej und ich nach Moskau zurückkehren. Putin wird ihn ins Gefängnis stecken und drei Jahre lang mit Einzelhaft, Hunger, Schlafentzug und Isolation von der Außenwelt foltern. Folter in der Hoffnung, ihn zu brechen und mundtot zu machen. Und wenn er merkt, dass es nicht funktioniert, wird er ihn kaltblütig umbringen.
Der Dresdner Friedenspreis wird für Beiträge zur Verhütung von Kriegen und Konflikten verliehen. Dresden ist zu einem der berühmtesten Symbole für die sinnlose Brutalität des Krieges geworden. Und die Bürger der Stadt, die vor 79 Jahren völlig zerstört wurde, haben diesen Preis gestiftet, um sicherzustellen, dass so etwas nie wieder passiert.
Aber der Krieg dauert noch an, er geht jetzt ins dritte Jahr. Ein schrecklicher und blutiger Krieg in Europa. Er konnte nicht verhindert werden. Also haben wir uns nicht genug Mühe gegeben. Wir haben nicht genug auf diejenigen gehört, die alle gewarnt haben. Die entschiedenes Handeln forderten, bevor es zu spät war.
Im Februar 2015 entwickelten zwei russische Politiker, Alexej Nawalny und Boris Nemzow, die Idee, eine große Antikriegskundgebung in Moskau zu organisieren und durchzuführen. Schließlich war der Krieg zu diesem Zeitpunkt bereits im Gange, Putin hatte bereits begonnen, die Grenzen in Europa neu zu ziehen. Am Vorabend dieser Kundgebung wurde Boris Nemzow vor dem Kreml erschossen. Doch dieses schreckliche Verbrechen hatte für Putin keine Konsequenzen. Wie viele seiner anderen Verbrechen auch. Die ganze Welt hatte sich entschieden, die Augen davor zu verschließen.
Im Jahr 2017 beschloss Alexej Nawalny, Putin bei den Präsidentschaftswahlen herauszufordern. Er reiste durch ganz Russland und hielt Hunderte von Treffen in Dutzenden von Städten ab. Bei jedem dieser Treffen sprach er darüber, dass Russland mit niemandem Krieg führen sollte. Das es richtig und vorteilhaft für Russland sei, danach zu streben, ein demokratisches, europäisches Land zu werden. Er schuf eine Bewegung von Millionen von Russen, die diese Werte und Ansichten teilten. Millionen von Unterstützern des Wandels, die friedlich handeln und gewaltfrei protestieren.
Wie wir später erfuhren, war dies die Zeit, als Putin als Reaktion darauf seine Auftragsmörder auf ihn ansetzte. Alexej Nawalny wurde in Russland und in der ganzen Welt durch seine Recherchen gegen die Korruption um Putins und seine Entourage bekannt.
Am 24. Februar 2022, dem Tag, an dem Putins Bomben und Raketen auf schlafende ukrainische Städte niedergingen, kam Alexej erneut vor Gericht. Dieser Prozess war anders als alle anderen Prozesse. Er fand direkt auf dem Gelände der Strafkolonie statt. Weder Journalisten noch Angehörige durften den Gerichtssaal betreten. Es war kein Zufall, dass der Verhandlungstermin auf den 24. Februar verschoben wurde. Putin wollte so sicherstellen, dass die Stimme seines Hauptfeindes nicht gehört wird.
Aber mein Mann hat trotzdem gesprochen. Er sagte im Gerichtssaal: „Ich bin gegen diesen Krieg. Er wurde entfesselt, um den Raub an russischen Bürgern zu vertuschen. Dieser Krieg wird nur zu einer großen Zahl von Opfern auf allen Seiten führen.“ Auch die Gefängnismauern konnten seine Stimme nicht ersticken.
Worte haben einen anderen Wert, je nachdem, wo und wann sie gesprochen werden. In diesem gemütlichen und schönen Saal ist es für Sie und mich ein Leichtes zu sagen, dass wir gegen den Krieg sind. Für uns in Russland ist das schwieriger: Man kann für solche Worte ins Gefängnis kommen. Und wenn man schon im Gefängnis ist, erwarten einen dafür verschärfte Haftbedingungen, Hunger, Folter, die Verlängerung der Haftstrafe. Aber Alexej hat trotzdem darüber gesprochen. Er zahlte den höchstmöglichen Preis, um gehört zu werden.
Ich bedaure, dass ich all diese schmerzlichen Dinge jetzt hier in diesem eleganten Saal, in dieser festlichen Atmosphäre ausspreche. Aber ich höre, dass viele Politiker im Westen immer öfter sagen, dass wir uns mit Putin einigen müssen. Dass man ihm zuhören sollte. Ich sehe einige europäische Botschafter bei Putins Amtseinführung. Und ich kann nicht mehr schweigen.
Die Erinnerung an meinen Mann lässt mich laut sprechen und sogar fordern. Schließlich hat Alexej heute diese Auszeichnung erhalten, weil er offen über die Bedrohung gesprochen hat, die Putin für die ganze Welt darstellt. Und auch ich werde immer und überall darüber sprechen.
Der Dresdner Friedenspreis und die Stadt Dresden selbst sind auch ein Symbol der Hoffnung. Die Hoffnung, dass ein dauerhafter Frieden möglich ist. Dass zerstörte Städte wiederaufgebaut werden können.
Aber der Krieg wird enden, und mein Land wird schön und frei werden, so wie mein Mann es sich erträumt hat. Und wie es der Traum von Millionen von Russen ist, die seinen Ruf gehört haben und seine Sache, seinen Kampf fortsetzen. Ihnen möchte ich diesen Dresdner Friedenspreis widmen. Denen, die jetzt in Russland für den Frieden kämpfen und dabei alles riskieren.
uraufgeführt am 12. Mai 2024 zur Verleihung des Friedenspreis Dresden 2024 im Schauspielhaus unter Verwendung zweier Texte von Schalamow und Pasolini
Zu nächtlicher eiskalter Stunde,
Voller Zorn von der Schinderei,
Werfe ich Rufzeichen in den Himmel
Vom siebzigsten Breitengrad.
Soll der bärtige Geologe
Doch den Zirkel auftauen am Feuer,
Und meine Koordinaten kreuzen
Auf dem verteufelten Berg,
Wo ich schon, wie Tannhäuser bei Venus,
Gefangen in schneeweißer Blöße,
Zwanzig Jahre in der Höhle lebe
Und brenne in dem einzigen Traum,
Dass ich ausbreche in die Freiheit,
Die Schultern recke wie Simson
Und die Steingewölbe einstürzen lasse
Auf diesen langjährigen Alb.
Copyright Matthes & Seitz Berlin | Übersetzung aus dem Russischen von Gabriele Leupold
Aus dem Herzen des Himmels gefallen
zitterte das Herz des Kindes, gekleidet
in ein viel zu leichtes Gesang
Ein Junge im aufgeknöpften Hemd
Läuft den Weg entlang.
an einem azurblauen Tag,
zwischen Pappeln, die nach Fest duften.
Oh, Lied, oh leichtes Lied
zwischen dem Herzen und dem Herzen des Himmels,
sobald du verstummst,
schließen sich die Wimpern des Lebens.
Übersetzung aus dem Friaulischen von Sergej Newski